Über die unbegründete Panik moderner Atheisten, die uns unfrei und klein macht.
Halten Sie sich an das hierzulande gültige Tanzverbot an christlichen Feiertagen? Oder wussten Sie überhaupt gar nicht, dass so etwas existiert? Feiern Sie christliche Feiertage gewissenhaft und gehen sie jeden Sonntag in die Kirche? Oder kennen Sie jemanden, der das tut (ihre Großeltern zählen nicht!) Nein? Dann sind sie keine Ausnahme: In Deutschland gehen nur noch geschätzte 2% der Menschen regelmäßig zum christlichen Gottesdienst. Jedes Jahr verliert die Kirche durch den demografischen Prozess etwa eine halbe Millionen Mitglieder. Die Religion hat nicht mehr viel zu melden, könnte man meinen.
Gut so, werden diejenigen sagen, die in Religionen in erster Linie eine manipulative Instanz, ein Blendwerk für Unmündige, ein perfides Mittel zur Unterdrückung sehen – lang ist schliesslich die Liste der Kriege und Kämpfe, die der Glaube an Religion den Menschen aufgebürdet hat. Aber obwohl die Fakten eine klare Sprache sprechen und die Säkularisierung der Gesellschaft hierzulande mit beharlicher Konstanz voranschreitet (daran ändern auch ca 45 Millionen eingetragene Konfessionen nichts), ist die Polarisierung, die Religion gerade heute wieder entfacht, größer denn je. Die Vehemenz, mit der sich gerade Atheisten aus der Mitte unserer Gesellschaft spätestens seit Machwerken wie „Gotteswahn“ von Richard Dawkins heute – insbesondere nach den aktuellen Anschlägen von Paris – zu Wort melden, ist zunehmend spürbar.
„Keinen Deut zurück weichen“ dürfe man, auf keinen Fall „einknicken“ oder gar vor dem „religiösen Gegner kapitulieren“. Eine Sprache, die offenbar bereits mitten im Krieg angekommen ist, also dort, wo der Terror sich selbst gern verortet. Irgendwie verwunderlich; könnte man doch annehmen, dass Atheisten eher die Gemäßigten, die „Gechillten“ sein würden – immerhin gibt es ja kein heiliges Buch, das ihnen die Marschrichtung eintrichtert und ein ewiges Leben in Aussicht stellen würde. Aber anstatt Gelassenheit zu predigen, geht es bei den modernen Religionslosen ordentlich zur Sache: die „Religiösen“ sind als Gegner der eigenen Überzeugung ausgemacht und im sich anbahnenden Kampf der Kulturen scheint es (zumindest hier in Europa) derzeit weniger zwei rivalisierende Religionen zu geben, als vielmehr Atheisten auf der einen Seite und Islamisten auf der anderen. Die Atheisten schliesslich sind es, die mehr und mehr den Fokus unserer Mitte ausmachen – aufgeklärte, fortschrittliche, moderne, freiheitsbewusste und auch ein wenig stolze Bürger, denen ihre Individualität weit mehr bedeutet als die sonntägliche Messe. Dabei sind moderne Atheisten oft nicht weniger von ihrer Mission überzeugt als Gläubige. Ihre „Werte“ gilt es, so sagen sie, mit allen Mitteln zu verteidigen. Der Kampf zwischen unterschiedlichen Glaubenssystemen ist längst entbrannt – ein Kampf, bei dem es einzig und allein darum geht, wer recht hat, wer das „bessere“ Weltbild hat. Und obwohl dieser Kampf nie zu entscheiden sein wird (es sei denn Gott höchstpersönlich kommt mal wieder auf die Erde hinunter, deutet auf eine der beiden streitenden Gruppen und sagt „Ihr habt gewonnen“), mischen diejenigen ordentlich mit, von denen man eigentlich ein gewisses Maß an Gelassenheit erwarten würde, wenn man ihrer Erhabenheit über derlei Dinge Glauben schenken darf. Zwar benutzen die Atheisten Europas bisher nicht die bedeutungsschwangere und verklärte Sprache, wie sie in den USA von christlichen Administrationen seit Jahrzehnten auf gruselige Weise zum Vorantreiben politischer Agenden gebraucht wird, jedoch scheinen auch sie durchaus bereit, ihre „Errungenschaften“ und Ziele im Zweifelsfall erbittert und mit aller Konsequenz zu verteidigen; die Stoßrichtung Islam ist dabei die gleiche.
Moralisch auf Augenhöhe
Dass sie dabei nicht besser oder schlechter sind als die, die sie anfeinden, findet auch die New York Times in ihrem Leitartikel am 18.1.15 zu Charlie Hebdo. Wer sich auf aggressive Weise ein Feindbild schafft und nach einem schrecklichen Attentat sofort reflexartig neue Provokationen braucht, um das eigene Weltbild in Stand zu halten, der mag sich zwar als Retter der Meinungsfreiheit inszenieren, meint es offenbar aber nicht ganz so genau mit dem Freiheitsbegriff. Denn letztlich wollen diejenigen, die gegen religiöse Fanatiker zu Felde ziehen, nichts anderes, als der verhasste Feind: dem Rest der Welt ihr eigenes („besseres“) Weltbild aufoktroyieren.
Wie kommt es dazu, dass die Fronten so verhärtet zu sein scheinen? Woher kommen die Ängste, die Atheisten auch heute noch haben, wenn es um Religion geht? Auf welcher Grundlage rufen sie auch in Zeiten grassierender Religionsverdrossenheit reflexartig nach mehr Karikaturen und der Verteidigung von allem ihnen Heiligen, obwohl sie doch dem „Heiligen“ abgeschworen haben? Wie kann es sein, dass drei Maskierte Irre, offensichtlich die Macht haben, ganze Länder davon zu überzeugen, dass sie schon bald überrollt werden und ins Chaos getürzt? Wie ist diese offensichtliche Irrationalität zu erklären?
Wenn Sie morgen im Supermarkt ihre Wurstfachverkäuferin erschiessen und dabei „Nieder mit den Fleischfressern!“ schreien, werden doch auch nicht alle Angst vor militanten Vegetariern bekommen, die absolut alles, aber auch wirklich ALLES, was die europäische Kultur bisher an Erhaltenswertem hervorgebracht hat zerstören werden, oder? Und warum darf man heutzutage nicht einfach Rücksicht auf andere Menschen (egal ob religiös oder nicht) einfordern, ohne dabei gleich als völlig wahnwitziger Feind der Meinungs- oder Pressefreiheit zu gelten? Wenn wir doch wissen, dass so einige Leute Mohammed Karikaturen nicht leiden können, warum müssen wir dann auf jeden Fall trotzdem solche Karikaturen zeichnen, ja sogar die Anfertigung neuer Karikaturen politisch motivieren? Zur Etablierung der Meinungsfreiheit? Das wäre dann in etwa so, als wenn ich mein Auto immer laufen lasse, obwohl ich es gar nicht benutze – also nur weil es erlaubt ist. Zur Etablierung meiner ganz individuellen Freiheit. Ich könnte aber auch einfach den Motor ausmachen, weil diese nervigen Umweltschützer (und vielleicht mein Bauchgefühl) mir sagen „Hey lass das doch, das ist umweltschädlich“. Aber Nein – ich lasse es laufen, weil es mir ein undefinierbares, echt geiles Gefühl von Freiheit gibt. Eine Freiheit, genau das zu tun, was ich für richtig halte. Man mag einwenden, dass die Umweltfanatiker ja auch keine Attentate ausüben, so wie es etwa islamistische Terroristen tun. Wäre es aber, einen Schritt weiter gedacht, sinnvoll, „aus Prinzip“ zum allgemeinen Luftverpesten aufzurufen, sobald eine Gruppe militanter Umweltschützer doch mal ein Auto in die Luft jagt? Die Antwort muss Nein lauten. Denn auch, wenn man darüber streiten darf, ob Umweltschutz richtig oder falsch ist, wird doch recht deutlich, wie die entstehenden, permanenten Emissionen den Konflikt wie ein Schwelbrand weiter befeuern werden. Wer also ein echtes, prinzipielles Interesse an einer Beilegung des Konfliktes hat, der wird eines mit Sicherheit nicht tun: die Gegenseite provozieren. Überdies darf man nicht vergessen, dass die Provokation viel mehr Menschen betreffen würde, als nur die paar wenigen, militanten Gruppen. Eine Provokation würde diese Menschen zusätzlich radikalisieren, anstatt Spannung abzubauen.
Warum also die blinde Provokation? Woher kommt die äußerst fragwürdige Haltung, dass „Toleranz Grenzen haben muss“ (wie mir mein Nachbar neulich vehement eintrichterte und dabei auch noch Pädophilie und alles andere denkbar schwierige mit in den Topf warf)?
Eine derart verbohrte Haltung ist nur mit irrationaler Angst zu erklären. In Momenten der Panik tritt die Aufgeklärtheit zur Seite und lässt den Ängsten freien Lauf. Toleranz wird relativiert und mal kurz hintan gestellt; gleichzeitig wird reflexartig ausgetreten zur vermeintlichen Verteidigung der eigenen Identität. Die Sorge, dass die mühsam gewonnene Mündigkeit in der Zukunft abhanden kommen könnte, überschattet dabei die realistischen Szenarien bei Weitem. Die Angst, vor einer erneuten gesamtgesellschaftlichen Religionisierung ist immens, obwohl sie alles andere als rational ist.
Money is my Religion
Mal ehrlich: was soll denn schon Schlimmes passieren? Dass sich Frau Merkel plötzlich eine Kutte umhängt und mit Weihrauch frohlockt? Oder, dass Herr Gauck sich einen Bart wachsen lässt und wieder anfängt zu predigen? Ich meine, schön wärs ja – ich frage mich ernsthaft, wie man die ganzen Waffenexporte als Geistlicher in einer schönen Sonntagspredigt so einbaut, dass am Ende ein Schuh draus wird. Und in unserer kalten Gesellschaft wär doch ein bisschen Wärme, Myrrhe und Chorgesang für manch einen längst mal überfällig und vom Therapeuten sicherlich mehr als abgesegnet – aber im Ernst: wer bitte glaubt ernsthaft an eine Rückkehr der Religion in die Mitte der Gesellschaft? Unsere neue, massentaugliche Religion ist mal abgesehen von der neuesten Playstation nach wie vor aus Papier und wird von der EZB gedruckt, sie kennen das Zeug, weswegen sie jeden Tag ihren Arsch zur Arbeit schleppen, nicht wahr?
Diese, unsere, alles durchdringende Religion ist so mächtig und omnipräsent, dass wir uns nicht sorgen müssen, der Islam könnte uns verschlingen. Denn selbst, wenn er das wollen würde, würde es nicht passieren. Der Grund dafür ist denkbar einfach: wir wollen es nicht! Wir brauchen keine neue Religion. Religion (im herkömmlichen Sinne) ist out, und selbst die Christdemokraten fragen sich, ob das „christlich“ in ihrem Namen noch zieht. Wir hatten bereits unsere religiöse Phase vor dem 18. Jahrhundert und die meisten von uns sind froh (und mitunter stolz), dass wir den Drops längst aufgelutscht haben. Wenn das Kind erst einmal aus den Schuhen heraus gewachsen ist, dann passen die Schuhe nicht mehr. Die alten Schuhe sind zu klein geworden, man braucht neue. Und die kauft man mit: Geld, genau!
Trotz der Aufklärung Europas wäre es ein großer Fehler, wenn wir jetzt glaubten, so wie es bei uns war, müsse es nun überall kommen. Scheinbar haben wir vergessen, dass besagter Drops ein streitbares Thema ist. Und obwohl so manches Leckermäulchen vielleicht einen ganz anderen Geschmack hat als unsereiner (und das ist sein gutes Recht!), schwingen wir uns mir nichts, Dir nichts empor und spielen den Retter der Menschheit, indem wir Religion echt irgendwie daneben oder sogar richtig gefährlich finden – Religion geht gar nicht! -, manch einer sogar insgeheim oder ganz unverhohlen fordert, Religion per Gesetz zu verbieten. Und ohne es zu merken, haben wir unsere Ideologie schon fast zur Religion gemacht, ganz ohne Messias – den brauchen wir auch nicht, denn: der Messias sind wir selbst.
Arrogant und anmaßend sind wir, wenn wir beständig die Tatsache ignorieren, dass sich unsere (Ach so freie!) Welt, wie wir sie heute in Europa Dank Erwerbsarbeit und äh ..Demokratie (Was war das nochmal? Nicht etwa das, wo 90% das eine Wollen aber 10% das andere durchsetzen?) haben, nicht so einfach wie ein Volkswagen exportieren lässt. Gesellschaften lassen sich nicht mal eben – mir nichts, dir nichts – demokratisieren oder gar säkularisieren, das wissen wir mittlerweile. Wer daher weiterhin so tut, als müsse „der Feind“ sich ändern, der liegt damit gehörig daneben. Ein Feind ändert sich leider nicht mal kurz. Ändern können wir nur uns selbst. Wer das nicht begreift, der ist auf halbem Wege dabei, radikal zu werden.
Wenn wir nur halb so fortschrittlich wären, wie wir uns gerieren, dann sollten wir unsere „Werte“, die wir immer flott hervorkramen, um uns zu profilieren, ernster nehmen. Und zu einem wertvollen Leben gehört nun auch mal Respekt und Toleranz („Gewährenlassen fremder Überzeugugen“). Wo ist sie hin, unsere vielgepriesene Toleranz? Wo ist unsere Großzügigkeit? Sind wir wirklich so klein, dass wir sofort einen Beissreflex kriegen, wenn uns jemand provoziert? Wo ist unsere Gelassenheit, unsre Größe, wenn man uns herausfordert, in diesem Augenblick der Provokation, der ganz entscheidend ist? Wenn wir wirklich nicht begreifen, dass wahre Größe weder mit Kampf, noch mit Reflexhaftigkeit zu tun hat, sondern mit Nicht-Kampf und Toleranz, mit aufrichtiger und ernstgemeinter Rücksichtnahme – erst dann könnte man vielleicht (und bitte sehr leise!) anfangen, darüber nachzudenken, ob Europa tatsächlich freiheitlicher (angstfreier) ist, als die bösen anderen.