Wie der Axel Springer Chef den kritischen Leitartikel der New York Times zu „Charlie Hebdo“ um 180° umdeutet in die „finale Unterwerfung der Pressefreiheit gegenüber der terroristischen Gewalt“.
Das grausame Attentat auf die Redaktion Charly Hebdo liegt mittlerweile ein paar Tage zurück. In Frankreich herrscht immer noch Ausnahmezustand. Heute sorgte Sarah Wagenknecht mit ihrer Aussage „Wenn eine vom Westen gesteuerte Drohne eine unschuldige arabische oder afghanische Familie auslöscht, ist das ein genauso verabscheuenswürdiges Verbrechen und es sollte uns mit der gleichen Betroffenheit und dem gleichen Entsetzen erfüllen“ für ein Skandälchen (fragt sich nur warum überhaupt).
Die Gemüter sind erhitzt, quer durch die Gesellschaft. Dass Terrorangst und gleichzeitig die Angst vor der Islamisierung umgehen, ist unbestritten. Genauso unbestritten ist die Tatsache, dass diese Ängste gemacht werden (Danke an dieser Stelle auch an Springer!).
Denn obwohl die Fakten und Zahlen zur Islamisierung derart ausfallen, dass man sich gar nicht richtig vorstellen kann, hier den wahren Grund für 45.000 besorgte Bürger auf Dresdens Strassen bei Minusgraden gefunden zu haben und obwohl laut Statistik die Gefahr durch Terrorismus in Deutschland verletzt zu werden auch nach Charlie Hebdo immer noch 0,25 mal kleiner ist, als vom Blitz getroffen zu werden, sind die Menschen aufgebracht und diskutieren erregt über die Schlüsse, die man aus Charly Hebdo und der Berichterstattung ziehen sollte – oder nicht ziehen sollte.
Viel ist geschrieben und gesagt worden und vieles war nicht neu. Nicht nur Nato Chef Stoltenberg war sofort ganz vorne mit dabei, den „Zusammenhalt des Militärbündnisses“ zu beschwören (also wenn die NSA es schon nicht hinbekommt, Attentate zu vereiteln, wie soll es dann bitteschön die NATO hinbekommen), sondern auch die üblichen Verdächtigen ratterten gleich drauf los, „jetzt aber endlich Vorratsdatenspeicherung“, „mehr Videoüberwachung“ – der ganze übliche Schwachsinn eben, der bisher nichts half und auch in Zukunft nur helfen wird, unsere Freiheit weiter und beständig auszuhöhlen.
Heute aber stolperte ich über ein ganz besonderes Häppchen Wahnsinn, als ich auf Welt.de diesen Artikel vom Axel Springer Chef höchstpersönlich, Mathias Döpfner, las, der sich darin mit dem Leitartikel der New York Times zu „Charlie Hebdo“ befasst. Er geniert sich zu meiner (ausbleibenden) Verwunderung offenbar nicht, den Inhalt des nachdenklichen und klugen Artikels – der die Entwicklungen in Frankreich kritisch hinterfragt und zur Debatte stellt, ob sich nicht gerade ein gefährliches „Messen mit zweierlei Maß“ entwickelt – auf perfide Weise umzudeuten in – wer hätte es gedacht – sein genaues Gegenteil. En detail:
Der Artikel eröffnet mit der längt überfälligen Fragestellung, inwiefern der zwanghaft provozierende Säkularist überhaupt moralisch besser ist als sein „Feind“, der Religionsfanatiker.
that there is, by implication, a sort of moral equivalence between deeply held secularist views and the “religious totalitarianism”
Im Weiteren beschreibt der Artikel die härtere Gangart der französischen Behörden, die sofort nach dem Anschlag alles, was irgendwie verdächtig erschien, also „Terrorismus rechtfertigend“ oder „unterstützend“ besonders ahndeten und dabei ein neues Gesetz zur Anwendung brachten, mit dem auch zahlreiche Personen in Gewahrsam gebracht wurden:
In the wake of the terror attack, French authorities began aggressive enforcements of a law against supporting or justifying terrorism, including arrests of people who spoke admiringly about the shootings at Charlie Hebdo. Not surprisingly, their actions have raised questions of a double standard — one for cartoonists who deliberately insult religion, when their cartoons are certain to antagonize Muslims at a time when anti-Muslim feelings are already at high levels in France and across much of Europe, and another for those who react by applauding terrorists.
Der Einwand des „doppelten Standards“ scheint berechtigt: die Grenze ziehen zwischen wohlüberlegter Aufhetzung, zu der man auch die Karikaturen von Charly Hebdo rechnen dürfte, und dem Beifallklatschen zum Terror als solchem ist keine leichte Aufgabe. Weshalb wird beispielsweise der Komiker Dieudonné M’bala M’bala für „Hassreden“ festgenommen, während Charly Hebdo zum Helden stilisiert wird? Wer kann die Linie ziehen zwischen „ekelhafter“ und „gefährlicher“ Rede? Gibt es bald eine Geschmackspolizei?
But drawing the line between speech that is disgusting and speech that is dangerous is inherently difficult and risky.
Letztlich stellt der Artikel fest: Normen des Geschmacks ändern sich. Was gerade geht und was nicht geht, ist immer eine Frage der gegenwätig vorherrschenden, also zulässigen Meinung. Um am Ende vom Lied nicht gar selbst eingebuchtet zu werden, empfiehlt es sich daher (ganz allgemein, aber im Speziellen für Journalisten) in Zeiten, in denen Gesetze schon mal rasch verschärft werden und heute schon als Straftat gilt, was gestern noch gesagt werden durfte: lieber mal dem brandaktuellen Zeitgeist entsprechen. In dieser Aussage (soweit muss ich Döpfner beipflichten) steckt Zündstoff. Denn sie heißt soviel wie: wer den Zeitgeist und die dazugehörige Meinung vorgibt, der entscheidet einzig und allein darüber, was am Ende des Tages geschrieben wird und was nicht. Kontrolle. Trotz Meinungsfreiheit.
„To judge what is fit – or safe – to print“
Auch in Zeiten von „Meinungs- oder Pressefreiheit“: Welcher Komiker am Ende im Knast landet – oder in den Geschichtsbüchern, entscheidet die Norm. Besorgniserregende Aussichten auf eine Zukunft, in der Bots im großen Stil die Meinung mitgestalten werden.
Der ebenfalls besorgte Döpfner macht nun aus diesem Satz seine ganz eigene Gruselstory. Er sieht schon die Felle der freien Presse schwimmen, weil ja alle so eine furchtbare Angst haben und sich wahrscheinlich gar nicht mehr zur Arbeit trauen. Äh, lesen sie Zeitung, Herr Döpfner?
Vor wenigen Tagen hatte ich mehrfach öffentlich meine Sorge geäußert, dass die Attacke auf eine ganze Redaktion im Zentrum der westlichen Welt langfristig eine Verhaltensänderung, eine neue Vorsicht und Zurückhaltung mancher Medien im Umgang mit islamistischem Fundamentalismus bewirken könnte – nach dem Motto: Wir wollen doch nicht provozieren – und dass dies der ultimative Sieg der Terroristen sein würde.
Ja, ja, eine „Verhaltensänderung“ – das wär mal was. Eine Verhaltensänderung mal nicht aus Angst, sondern aus Rücksicht. DAS GEHT, Herr Döpfner! Glauben Sie nicht? Wollen Sie nicht?Schade.
Jedenfalls Danke, dass Sie mich auf den mutigen Artikel in der NewYorkTimes aufmerksam gemacht haben. Ich vermute mal, sie hatten einfach zuviel zu tun – sonst wären sie sicher auch von selbst drauf gekommen, dass die wahrlich gefährlichen „Feinde der Freiheit“, wie Sie sie so liebevoll nennen, nicht immer die sind, von denen man es zuerst denkt, weil es so in der Zeitung steht, die Sie herausgeben. Manchmal erschrickt man sogar, weil sie plötzlich auftauchen, wenn man in den „Spiegel“ schaut.