Wut im Bauch

Warum es an der Zeit ist, über das reaktionäre Demonstrieren hinaus zu gehen

Ich muss es mal klar sagen: mindestens so sehr wie mich ankotzt, dass anscheinend in Deutschland viele Menschen so paranoid gemacht wurden, dass sie sich auf Veranstaltungen, bei denen dümmliche und rassistische Parolen gesagt werden, Luft machen – so sehr kotzt mich derzeit an, dass die zu Grunde liegende Problematik anscheinend nicht zu einer öffentlichen Debatte führt.

Es gibt keine öffentliche Debatte, weil das Feindbild klar ausgemacht zu sei scheint – dort die Rassisten, hier die „besseren“ Menschen – dort die, die man an den Pranger stellt, hier die Guten, die Menschenversteher, die aber vielleicht gar nicht so viel verstehen, wie sie vorgeben.

islam hetzeGanz normaler Bildzeitungsalltag: Hetze pur.

Denn anstatt ständig Posts zu lesen wie „No Pegida, Fuck Pegida“ usw wäre es doch für unser Land weitaus zuträglicher, die Zustände – die (wieder einmal) dazu führen (und es ist immer so), dass Menschen, die sich vom System in die Ecke gedrängt fühlen, reflexartig austreten, sich ein Opfer suchen, einen Schwächeren, über den sie herfallen können – zu analysieren und zu verstehen, warum es dazu kommt, denn:

Rassismus ist nicht angeboren!

Wir haben in Deutschland ein Armutsproblem! Seit Jahren driftet die Schere auseinander, arm und reich waren nie so extrem voneinander getrennt wie heute. Das ist nicht erst seit gestern belegt. Die Ungleichheit des Systems ist so gravierend, dass es weh tut. (->Picketty: Das Kapital)

Wir haben in Deutschland ein Bildungsproblem! Nicht nur das neue Studiensystem ist ein Problem, sondern generell fliesst viel zu wenig Geld in Bildung, Schulen und Kindergärten. Auch hier bewegen wir uns von einem solidarischen System hin zu einem System, in dem private Bildung für wenige Priviligierte erschwinglich ist, während immer mehr junge Menschen in katastrophalen Verhältnissen lernen.
(->Friedrichs: Gestatten Elite)

Anstatt, dass Geld dazu aufgewendet wird, Kultur zu fördern und damit Streitkultur, die für jede Demokratie unentbehrlich ist, werden Theater geschlossen, Banken gerettet und Versuche, dem System wieder sozialere Gesichtszüge zu verpassen wie Transaktionssteuer oder Vermögensumlage blockiert.

Windige Geheimabkommen wie TTIP werden unterzeichnet, die nicht zum Wohle der BürgerInnen sind, sondern zum Wohle der Großkonzerne und der Finanzwirtschaft. Hier kann jeder direkt spüren, wie wenig der Verbraucher als Mensch zählt, denn anstatt nachhaltige und gesunde Lebensmittel zu fördern, ist es ein schwieriger Kampf gegen Chlorhühnchen, Saatgutzerstörer und Massentierhaltung, der vielleicht am Ende nicht gewonnen werden wird.(-> Film: Monsanto, mit Gift und Genen)

Unsere Grundrechte werden tagtäglich angegriffen und die Demokratie abgebaut. Das ist keine Erfindung, sondern findet bereits statt. Spätestens seit Bekanntwerden des Überwachungsskandals dämmert auch den letzten, dass unsere Grunderechte mit Füßen getreten werden und sich unsere Gesellschaft im Begriff ist, zu verändern. (-> Juli Zeh: Angriff auf die Freiheit)

Alles deutet daraufhin, dass der geschürte Konflikt ein willkommenes Instrument ist für diejenigen, die daran verdienen. Die Welt als Absatzmarkt für Exportkrieg – auch das ist in Deutschand tief verwurzelt, sind wir doch als Waffenexporteur ganz oben dabei. Der „War on Terror“, die täglichen Bilder in der Tagesschau – die Angst vor dem Islam ist gemacht! Das brauche ich hoffentlich niemandem mehr zu erklären. Mittlerweile weiß doch jeder, dass mehr Menschen durch Blitzschläge sterben, als durch Terrorismus.
Und dass ISIS und das Chaos im mittleren Osten hausgemacht sind, ist doch heute genauso bekannt wie die Tatsache, dass Al Qaida eine Truppe der CIA war.

Huntingtons „Clash of Civilizations“ (1996) ist eine falsche Idee, die geboren wurde, um Konflikte auch in Zukunft zu schüren und profitabel zu machen. Und wenn wir nicht aufpassen, kommt es genau zu diesem Clash. Wenn sich Wut und Engstirnigkeit durchsetzen gegen Dialog und Offenheit, dann haben wir verloren. Wir müssen endlich aufwachen aus dem Traum, den wir alle träumen. Die Welt ist nicht in Ordnung, bloß weil wir den paar Nazideppen mal ordentlich die Leviten lesen. Der wahre Faschismus sitzt viel tiefer. Wer das leugnet, begeht vielleicht einen großen Fehler.

Es gibt in diesem Land eine fürchterliche Doppelmoral. Wenn endlich diejenigen, die jetzt meinen für das Gute auf die Strasse zu gehen und zwar GEGEN etwas, endlich mal FÜR etwas auf die Strasse gehen würden, dann gäbe es Hoffnung.

Es kann sich nur wirklich etwas verändern, wenn jeder ein bisschen über seinen eigenen Schatten springt und seine Ressentiments mal beiseite lässt. Darüber nachdenkt was wirklich schief läuft und dann dafür kämpft, dass sich grundlegende Dinge verändern.

Die Dinge werden sich nicht ändern, wenn wir einfach nur den „Rassisten“ einen auf den Deckel geben und dann so weitermachen wie bisher. Im Gegenteil, es wird viel schlimmer werden.

PS: Warum nennen sich die deutschen Patrioten, die man eigentlich als Nationalisten verorten würde, plötzlich „Europäer“?
Warum bekommt eine Bewegung, die genauso wie die Friedensdemos mal klein angefangen hat, soviel Presse und Aufmerksamkeit?
Ist es Zufall, dass der Strippenzieher von Pegida, Lutz Bachmann, eine Werbeagentur betreibt und laut Eigenaussage „eng mit dem Springer Verlag kooperiert“?
Warum lügt die Dresdner Polizei laut dem bekannten Friedensaktivist Pedram Shayar die Demonstranten Zahlen um etwa das Doppelte nach oben?

Fragen, auf die ich keine Antworten habe, die man aber stellen darf.

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